Atemzüge

1. Atemzug
Man sagt, der Weg des Schmetterlings von der gefräßigen Raupe über die Puppe bis hin zu seinem ersten Flügelschlag ist eine Gratwanderung von Fülle, Geborgenheit über Angst, Schmerz und Mut. Jede Veränderung ist ein Wandlungsprozess und nicht jeder Schmetterling schafft es aus seinem Kokon zu schlüpfen, um im Sonnenschein seine wunderschönen Flügel zu schlagen. Manche brauch für diese Verwandlung einige Tage und andere brauchen Jahre dafür. Doch findet er in der Stille die Kraft und den Mut die Grenzen zu sprengen, taucht er in seiner ganzen Schönheit in eine neue Welt.

Als Emily am Morgen erwachte, spürte sie ihren Körper nicht mehr, gerade so als würde sie noch schlafen. Doch ihre Augen waren geöffnet. Sie versuchte sich vorsichtig zu bewegen. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das halb geöffnete Fenster auf ihr Bett. Sie fühlte sich schwer wie Blei. Als sie aufstehen wollte, sank sie wieder auf ihr Bett zurück. Mit aller Kraft setze sie sich auf die Bettkante. Was war los? Würde sie eine Erkältung bekommen? Langsam schlüpfte Emily in ihren kuschelig weichen Bademantel, der ihren schlanken Körper ganz und gar einhüllte. Sie strich sich ihr blondes Haar zurück und wollte erst einmal einen Kaffee machen, um wach zu werden. Ihr war kalt, so eisig kalt. Ihre Beine zitterten und ihr wurde schwindlig. Sie ließ sich auf dem Weg zur Küche auf die Couch sinken. Tränen liefen über ihr zartes Gesicht. Da war eine Leere in ihr und sie konnte sich nicht fühlen. Unzählige Gedanken schossen mit Lichtgeschwindigkeit durch ihren Kopf. Angst legte sich wie ein schwerer Stein schmerzend in ihren Bauch und eine Stimme schien zu flüstern: „Ich kann nicht mehr, will nicht mehr. Dieses Mal schaff ich´s nicht!“

Emily konnte nicht mehr aufhören zu weinen. Der Angststein in ihrem Bauch schmerzte, alles verkrampfte sich und nahm ihr fast die Luft zum Atmen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder die gleiche Frage: Was passiert gerade mit mir? Die letzten Monate hatten ihren Körper gezeichnet. Was sie aß, war gerade genug um zu leben und aufrecht zu stehen. Zu viele Zigaretten, zu viel Kaffee und zu viele unruhige, Alptraum geplagte Nächte. Ihre Augen waren traurig und ihr lebendiges, glückliches Lachen war lange schon verschwunden. Nur die kindliche Magie ihrer Tochter vermochte es noch, dieses Strahlen für wenige Augenblicke hervorzuzaubern. All die Last, die sie jeden Tag mit sich trug, war zu schwer geworden, zog sie runter ins Bodenlose. Eine Entscheidung, was für sie das Beste ist, konnte sie längst nicht mehr sehen.

2. Atemzug
Wenn der Schmetterling seine Verwandlung abgeschlossen hat und aus der Puppe schlüpft, muss er zuerst seine Flügel mit Energie füllen … bevor er endlich fliegen kann.

Vor einigen Jahren trennte sich Emily vom Vater ihrer Tochter. Die Welt, die sie versuchte, irgendwie aufrechtzuerhalten, löste sich auf. Sie fühlte sich wie mitten in einem Scherbenhaufen eines zerbrochenen Spiegels und hatte sich so viele Wunden dabei zugefügt. All die Sorgen, ihre finanziellen Probleme und das Wohlbefinden ihrer kleinen Tochter waren ihr einziger Lebensinhalt. Dies alleine zu meistern, forderte oft mehr Kraft von ihr, als sie noch hatte und die steinigen Wege schienen kein Ende zu nehmen. Nach „gerade Stehen“ fühlte sich nichts mehr an. Es war fast so, als würde sie einige Zentimeter über den Boden schweben und ihr Körper betäubt sein. Ohnmacht. All ihre Wünsche, Ziele und Sehnsüchte schienen vergraben unter den Scherben. Nach und nach konnte sie vieles neu ordnen und klären und Altes loslassen. Ihre Tochter war immer ihre kleine Sonne. Gemeinsam haben sie geweint. Gemeinsam haben sie gelacht. Und „Mama, ich liebe dich!“ war der Zauber, der Emilys Herz antrieb.

Nach diesem ständigen Auf und Ab stabilisierte sich ihr Leben Schritt für Schritt. Neue Wünsche und Ziel nahmen Gestalt an und auch ihr Lachen berührte wieder sanft ihre Lippen. Emily begann aus den Steinen auf ihren Weg sich ein neues, ganz individuelles Haus zu bauen. Sie las viel, begann zu schreiben, veröffentlichte ihr erstes Buch. Sie meditierte, machte lange Spaziergänge in der Natur, zeichnete, belegte einen Online-Kurs in Quatencliering und begann sich neu auszurichten. Es war ein Gefühl von – sich neu entdecken und es war unbeschreiblich schön. Emily lebte mit ihrer Tochter auf dem Land in einem alten Gut, das renoviert wurde. Es umgab sie eine malerische Landschaft von Wäldern, einen Schlosspark mit Wunschbrunnen und einem Teich, wo sie in den Nächten oft den Froschkonzerten in der Stille lauschte, die sie in den Schlaf trugen. Das Leuchten in ihren schönen grünen Augen war zurück und sie blickte endlich wieder mit Neugier in die Welt und konnte all die kleinen und großen Wunder sehen und spüren … konnte endlich ihre Flügel ausbreiten … bis …

3. Atemzug
Und wie sich der Schmetterling im Winter zurückzieht, um sich zu schützen und die Kälte zu überleben, so war auch Emily danach, aus dieser Situation zu verschwinden, sich zu schützen. Es gibt Schmetterlinge, die können diese Eiseskälte nicht überstehen.

… bis sich Änderungen an ihrem Arbeitsplatz auftaten, die Folgen nach sich zogen, von denen Emily niemals auch nur geahnt hätte, dass ihr so etwas passieren könnte. Emily arbeitet eine Ortschaft von ihrem Zuhause entfernt als Sekretärin der Geschäftsleitung. Das Bauunternehmen BEST mit 40 Beschäftigen war bundesweit tätig. Emily machte ihr Job wirklich Freude und er war bunt gefächert. Ihr Arbeitsspektrum bewegte sich von der Betreuung der Auszubildenden über alle Bereiche der Geschäftsleitung, Zusammenarbeit bei den Projekten bis hin zum Fuhrpark. Sie mochte den Kontakt mit Menschen und hatte immer auch ein offenes Ohr für die Anliegen der Mitarbeiter. Das Arbeitsklima war, bis auf einige Zickereien meist unter den Frauen, sehr harmonisch. Dann gab ihr Chefs offiziell bekannt, dass er in einem Jahr das Unternehmen verlassen wird und in Vorruhestand geht. Steffen Groß, Emilys Chef, war über 60 und wollte in diesem Zeitraum mit ausreichend Vorbereitung die Geschäfte an seinen Sohn Helge und an einen der Gesellschafter des Unternehmens namens Andre Trapp übergeben. Das war der Tag, als alles seinen Lauf nahm.

Atemzüge – Luft anhalten
Aus Gründen, welche ich hier nicht näher benennen möchte, musste ich einige Textpassagen meiner Geschichte entfernen.

4. Atemzug
Schmetterlinge darf man gar nicht oder nur ganz vorsichtig berühren sonst verlieren sie den Schmetterlingsstaub von ihren zarten Flügeln. Ihre wundervollen Farben, ihr Leuchten verblassen und sie können nicht mehr fliegen.

5. Atemzug
Der Schmetterling ist von zarter Gestalt. Seine Flügel scheinen zerbrechlich und sein Wesen zeigt uns Leichtigkeit. Doch wenn es kalt wird, erstarrt der Schmetterling und er hat keine Chance mehr wegzufliegen.

Ihre Tochter fühlte, dass etwas nicht stimmte. Sie sah ihre Mama oft weinen. Ihr Kind war ihr so nah, dass auch sie den Stein aus Angst in ihrem kleinen Bauch spürte und ihr Verhalten mit allen den Ängsten, nicht Essen zu können und die Traurigkeit annahm. Emily brach es jedes Mal fast das Herz, ihre Tochter so zu sehen und zu erleben. Doch sie konnte nichts daran ändern. Zu tief war sie schon in der Dunkelheit und der Angst gefangen. Was, wenn sie etwas sagte und dann ihren Job verlieren würde. Wie soll sie für sich und ihr Tochter sorgen? Wie soll es weitergehen? Sie musste durchhalten. Es wird sicher besser werden. Ganz bestimmt.

Schmerz umklammerte ihr Herz. Die Liebe hielt ihren erstarrten Körper im Arm. Ihre Seele schrie: „Halt an!“ Doch Emily nahm nichts mehr wahr. Ihr war so kalt … viel zu kalt, um noch zu fliegen.

6. Atemzug

Wenn Schmetterlinge langsam und leise sterben, geschieht dies meist unbemerkt.

 Dann wurde ihre kleine Tochter krank. Zuerst hatte sie sich einen Magen-Darm-Infekt eingefangen und danach gleich eine Lungenentzündung. Emily blieb zu Hause und pflegte sie. Sie hatte Angst um ihre Kleine. Sie lag tagelang fiebernd auf der Couch. Später erkannte Emily, dass es ein Hilfeschrei ihrer Tochter war, dass es so alles nicht mehr weitergehen konnte. Und wenn Mama es nicht tut, dann halte ich alles an. Emily brauchte in dieser Zeit ihre letzten Kräfte auf für ihr Kind. Fast jede Nacht schlaflos kratzte sie sich am ganzen Körper blutig. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie weinte und konnte kaum noch etwas essen und fühlte sich ohnmächtig. Ihre Tochter brauchte sie jetzt. Das war ihr einziger Gedanke, der sie noch aufrecht hielt.

Danach ging sie noch 2 Wochen zur Arbeit. Und dann kam ein langes Wochenende und in ihr wurde plötzlich alles ganz ruhig. Die Gedanken wurden leise. Da waren eine unbekannte Stille und eine scheinbare Leere in ihr. Am Samstagabend ging sie mit Freunden zur Disco, fuhr aber selbst mit dem Auto, damit sie jederzeit gehen konnte, wenn sie sich nicht wohlfühlte. Der Abend war schön und Emily konnte sogar mal wieder ein wenig lachen. Sie blieb nicht lange, weil ihr Körper es gar nicht verkraftete. Sie verabschiedete sich und fuhr nach Hause. Sie wollte einfach nur schlafen … ganz lange schlafen.

Als Emily am nächsten Morgen erwachte, spürte sie ihren Körper nicht mehr, gerade so als würde sie noch schlafen … 1. Atemzug

Bis sie erkannte, dass und vor allem warum sie körperlich und seelisch total zusammengebrochen war, verging eine Woche. Sie schlief und weinte Tag und Nacht im Wechsel. Sie versuchte zu essen. Jeder Bissen war eine Qual und blieb ihr fast im Hals stecken. Ihr Körper war kraftlos und völlig erschöpft. Der Angststein in ihrem Bauch schmerzte ohne Unterlass und in ihrem Kopf rasten die Gedanken wie Schnellzüge an ihr vorbei. Keiner hielt an. Nichts war greifbar. Kaffee und Zigaretten und ein Stück Schokolade waren oft alles, was sie zu sich nahm.

Ihr Hausarzt wollte sie aufgrund ihres Zustandes sofort einweisen lassen und hatte Angst um sie. Emily lehnte ab. Sie wollte doch ihre Tochter nicht alleine lassen. Sie würde das irgendwie schaffen. Irgendwie. Sie bekam einen Monat später einen Termin beim Psychiater. Dieser riet ihr, sich umgehend in psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Umgehend ist hier im System jedoch mit einer Wartezeit von mehreren Monaten verbunden. Der Psychiater sagte ihr, wenn das zu lange dauert, müsse sie sich einweisen lassen. Die beiden Termine bei ihm verliefen kalt und unpersönlich. Nachdem er Emily mit einem Soldaten im Schützengraben verglichen hatte, der, wenn er nicht gleich aufsteht, sterben wird, hatte sich diese Sache für sie erledigt. Sie wusste ja nicht, wie sie wieder aufstehen sollte. Sie war am Ende ihrer Kräfte, dass sie es auch gar nicht mehr wollte. Emily nahm das alles irgendwie auf und auch wieder nicht. Ihr Zustand war bedenklich und sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.

Vor jeden Termin oder Verpflichtung musste sie sich vorbereiten, um überhaupt in der Lage zu sein ihre Wohnung zu verlassen. Sie duschte sich, wusch sich die Haare und schminkte sich. Es war eine Maske für alle im Außen und für sie selbst wie ein Schutz. Sie hatte Angst einen Kollegen von ihrer Arbeitsstelle über den Weg zu laufen oder überhaupt von irgendjemandem angesprochen zu werden. Sie konnte über all das nicht sprechen. Nicht jetzt! Nicht heute! Die Kraft hatte sie nicht mehr. Dabei muss niemand seinen Kummer und seine Tränen verstecken, denn es ist das ehrlichste Gesicht, was man auch zeigen darf.

Zu den Terminen bei ihrem Hausarzt versuchte sie so wenig wie möglich zu weinen, wenn er sie nach den Vorfällen an ihrem Arbeitsplatz fragte. Er machte sich wirklich Sorgen um Emily, denn ihre Symptome nahmen stetig zu. Zu Weinkrämpfen und Schlafstörungen kamen Angstzustände und Verlustängste, wie sie wohl finanziell alles bewältigen sollte. Regelmäßig essen konnte sie nicht oder vergaß es einfach. Sie war kraftlos und die kleinste Belastung brachte sie in einen tiefen Erschöpfungszustand. Schlafen. Sie wollte nur schlafen. Ihr Körper war mit Kratzern und Pusteln übersät, wenn sie sich nachts im Halbschlaf vor Angst und Nervosität völlig zerkratzte. Oft starrte sie nur vor sich hin und vergaß Raum und Zeit. Und dieser Zustand sollte noch lange anhalten. Die Tage, Wochen und Monate gingen dahin …

Sie fühlte sich gefangen wie in einem Kokon, in völliger Dunkelheit und dann ist sie langsam und leise von allen unbemerkt ein Stück gestorben.

Fortsetzung folgt …

(TEXT UND BILD COPYRIGHT BY EMILY ANDERS)

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